Sittengesetz

Sittengesetz
   1. Philosophisch bezeichnet S. die höchste Norm aller ethischen Forderungen, die den Menschen zum Tun des Guten u. zum Unterlassen des Bösen verpflichten. Bei I. Kant († 1804) ist das S. das objektiv gültige Gesetz, das dem Willen eines jeden vernünftigen Wesens einsichtig u. verpflichtend gegeben ist (Kategorischer Imperativ ). Im Unterschied dazu versteht er ”Maximen“ als subjektive Bestimmungsgründe des Willens.
   2. Das ”natürliche S.“ der kath. Theologie. Die objektiven Strukturen der menschlichen Natur, die der menschlichen Freiheit vorgegeben sind u. sie ermöglichen, bedeuten ebenso viele notwendige objektivierte Normen für das menschliche Handeln. Sie werden mit transzendentaler Notwendigkeit auch im Akt der Verneinung (im Erkennen u. Handeln) nochmals implizit bejaht. In der Sicht des Glaubens können diese Strukturen als vergegenständlichter Wille Gottes, des Schöpfers dieser Natur, aufgefaßt werden; das aus ihnen hervorgehende Gesetz des Sollens kann dann (mit einem interpretationsbedürftigen Begriff) natürliches Sittengesetz genannt werden. Die Summe von Rechten u. Pflichten, die sich aus der Natur des Menschen (als eines mit Verstand u. freiem Willen begabtenWesens) unmittelbar von selber ergibt, heißt in der kath. Ethik auch Naturrecht. Dessen Erkennbarkeit, Unveränderlichkeit oder Veränderlichkeit sind wesentliche Themen der griechischen u. christlichen Tradition (Menschenrechte). Nicht alles, was faktisch am Menschen ist, ist darum auch schon sein-sollend; der Mensch ist von seiner Natur her auch auf ein Tun hin angelegt, durch das er sich auch selber verändert. Das ist in der kirchlichen Lehre vom ”Naturgemäßen“ oft nicht gesehen. Aber die Grundstrukturen seiner Wirklichkeiten (Geistigkeit, Personsein, Bezogensein auf das Geheimnis, Geschichtlichkeit, soziale Bezogenheit auf andere usw.) machen seine Menschenwürde u. seine Verpflichtung im ”natürlichen S.“ aus. Insofern die menschliche Natur auf die absolute Verfügung Gottes hin offen ist (Natur und Gnade , Potentia oboedientialis ), sind natürlich die Normen des Sollens, die sich aus der gnadenhaften Selbstmitteilung Gottes an den Menschen ergeben, von noch höherer Würde u. von gleicher verpflichtender Kraft wie das ”natürliche S.“ In der Sicht der heutigen kath. Theologie gab u. gibt es in der konkreten, von Gottes Gnade u. Vergebung bestimmten ”Ordnung“ keine ”reine Natur“. Eine grundlegende Problematik des Naturrechts besteht daher in der Frage, ob ”Natur “ überhaupt als Schlüsselbegriff für sittliche Weisungen, die für alle Menschen aller Zeiten gelten, geeignet ist. Nach kath. kirchenamtlicher Lehre existieren zwei Erkenntnisordnungen, die des Glaubens u. die der Vernunft (II. Vaticanum GS 59 ). Wenn u. insofern ein Mensch die Möglichkeit hat, mittels seiner Vernunft (die auch beim Nichtglaubenden nie eine ”rein natürliche“ Vernunft ist) sittliche Verhaltensnormen logisch unabhängig von der ausdrücklichen Offenbarung Gottes im Wort zu erkennen, könnten von da aus Grundlagen einer ”operativen“ ethischen Einigung von Glaubenden u. Nichtglaubenden diskutiert werden. Es ist aber damit zu rechnen, daß bei einer solchen Diskussion keine Einigung über das erzielt werden kann, was ”naturgemäß“, ”zeitlos gültig“, ”widernatürlich “ oder ”geschichtlich relativ“ ist. Das kirchliche Lehramt erhob wiederholt, besonders intensiv u. oft seit ”Humanae vitae“ 1968 in der Frage der Geburtenplanung, den Anspruch, verbindliche Aussagen über Sachverhalte des ”natürlichen Sittengesetzes“ machen zu können. In solchen Fällen handelt es sich um ”authentische“ Äußerungen des kirchlichen Lehramts, die nicht an der Unfehlbarkeit partizipieren u. die in ihrer Argumentation auf Begründungen aus dem Bereich der nicht-theol. Wissenschaften u. der allgemeinen menschlichen Vernunft angewiesen sind.

Neues Theologisches Wörterbuch. . 2012.

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